Linda Fahle ist Projektreferentin für Berufliche Bildung bei „ARBEIT UND LEBEN Bildungsvereinigung Sachsen-Anhalt e.V.“ und beschäftigt sich mit dem Thema funktionaler Analphabetismus.
In einem Interview beantwortete sie u-form wichtige und interessante Fragen zu dieser Problematik.
u-form: Betrifft das Thema „funktionaler Analphabetismus“ überhaupt die duale Berufsausbildung? Schließlich haben die meisten Azubis einen qualifizierten Schulabschluss.
Linda Fahle: Da seit dem Jahr 1919 in Deutschland die Schulpflicht herrscht, besitzen grundlegend alle Auszubildenden einen Schulabschluss. Jedoch verlassen vermehrt junge Erwachsene die Schule, die die angestrebten Standards nicht erfüllen können. Das heißt, sie können zwar einzelne Buchstaben und Wörter, jedoch nicht zusammenhängende Texte lesen und schreiben bzw. deren Sinn erfassen.
Lese- und Schreibkompetenzen gehören in unserer heutigen Gesellschaft zu den Grundbildungskompetenzen, welche die Auszubildenden beherrschen müssen, um am gesellschaftlichen Leben – also auch dem Arbeitsleben – teilzunehmen und die vom Arbeitgeber zumeist vorausgesetzt werden. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Werbung, welche vor einigen Jahren durch die Medien gegangen ist, in der ein Lagerarbeiter ein Sicherheitsschild nicht richtig lesen konnte? (Hier geht es zum Werbespot) Diese Situation stellt keinen Ausnahmefall dar. So leben laut einer Studie der Universität Hamburg 7,5 Millionen Menschen in Deutschland, die nicht ausreichend über Lese- und Schreibkompetenzen verfügen. Davon befinden sich 6,5 Prozent – also ca. 450000 – in einer Ausbildung. Ein Unternehmen oder die Berufsschule ist spätestens dann von der Problematik betroffen, wenn die Auszubildenden unkonzentriert, kontaktscheu oder sogar aggressiv werden.
Der entstehende Kreislauf aus negativen Lernerfahrungen und Misserfolgen prägt den Betriebs- und Berufsschulalltag.
u-form: Woran erkenne ich als Ausbilder einen funktionalen Analphabeten, wenn er oder sie es bisher so erfolgreich geschafft hat, dies zu überspielen?
Linda Fahle: Funktionale Analphabeten entwickelten über Jahre Methoden ihre fehlenden Kompetenzen auszugleichen oder zu verstecken. Diese zeichnen sich oft durch Kreativität und Gedächtnisleistung aus. Je nach dem Charakter des Auszubildenden agieren diese aktiv oder passiv. Achten Sie darauf, ob Ihre Auszubildenden unsicher sind oder versuchen Anforderungen auszuweichen bzw. diese mangelhaft erfüllen. Auch Unpünktlichkeit und häufige Krankheit können ein erstes Signal sein.
Sollte Ihnen ein solches Verhalten auffallen, lohnt es sich zum Beispiel einen genaueren Blick in das Berichtsheft Ihrer Auszubildenden zu werfen: Wie hoch ist die Fehlerzahl? Ist das Schriftbild verwackelt oder unsicher? Werden nur einfache Worte und keine fachspezifische Sprache verwendet? Sind die Formulierungen unkreativ und wenig plastisch? Auch die schulischen bzw. berufsschulischen Leistungen können einen Hinweis auf den Umgang mit Lese- und Schreibaufgaben geben. Sollte der Auszubildende gezielt schriftliche Übungen vermeiden, indem er nicht an diesen teilnimmt, sich wenig am Kursgeschehen beteiligt oder sich herausredet, sollten Sie ein klärendes Gespräch suchen.
u-form: Und ganz wichtig: Was können Ausbilder konkret tun, um einem jungen Menschen mit dieser Problematik zu helfen. Ist es realistisch, dieses „Problems“ in zwei oder drei Ausbildungsjahren Herr zu werden?
Linda Fahle: Vermuten Sie, dass einer Ihrer Auszubildenden fehlende Kompetenzen im Schreiben oder Lesen hat, gilt es dieses anzusprechen. Da es sich dabei jedoch um ein sehr sensibles Thema handelt und es Betroffenen oft unangenehm ist darüber zu sprechen oder sie sich das Defizit nicht selber eingestehen möchten, sollten Sie hier sehr empathisch vorgehen. Machen Sie sich bewusst, dass die Ursachen für funktionalen Analphabetismus oft auf negative Umstände im Elternhaus oder in der Schule zurückzuführen sind. Sie kennen die Stärken, die Ihr Auszubildender besitzt. Am besten betonen Sie diese und geben ihm so das Gefühl einer vertrauten Umgebung. Im besten Fall finden Sie gemeinsam mit dem Auszubildenden einen Weg, die fehlenden Kompetenzen nachzuholen und auszugleichen.
Sind Sie, als Ausbilder/-in, und Ihr Auszubildender zur aktiven Arbeit bereit, bieten sich Ihnen verschiedenste Möglichkeiten. Zum einen kann Ihr Auszubildender Kurse in der nächsten Volkshochschule besuchen. Hier werden Alphabetisierungskurse angeboten, welche sich zum Beispiel auch mit arbeitsbezogenen Aufgabenstellungen auseinandersetzen.
Zum zweiten können Sie selbst im Unternehmen aktiv werden und die Unterweisungen und Kommunikation anpassen, indem Sie sich mehr Zeit für Anleitungen und Erklärungen nehmen, durch methodische Vielfalt verschiedene Sinne beim Lernen ansprechen und klare Rückmeldungen geben. Im Idealfall schaffen Sie ruhige Lernräume, in denen Ihr Auszubildender individuell Inhalte wiederholen kann. Im dritten Schritt besteht für Sie die Möglichkeit unternehmensintern Angebote für den Auszubildenden zu schaffen. Wir empfehlen zum Beispiel den Einsatz von leichterer Sprache bei den Arbeitsmaterialien und die Nutzung digitaler Lernprogramme, wie zum Beispiel der Software von eVideo, welche fachliche und schriftsprachliche Einheiten miteinander kombiniert.
Wie schnell sich der Erfolg der Maßnahmen einstellt und ob Sie in zwei bis drei Jahren die Kompetenzen soweit aufbauen können, dass kein Nachteil mehr für Ihren Auszubildenden und Ihr Unternehmen entsteht, hängt von der Ausgangssituation ab. Betroffene, die nur einzelne Buchstaben oder Wörter lesen können, benötigen meist viele Jahre, um das Lesen und Schreiben zu lernen. Bei Auszubildenden, die sich bereits auf Satzebene bewegen, jedoch Texte nicht sinngemäß erfassen können und fehlerhaft mit diesen arbeiten, können in wenigen Jahren schon Erfolge erzielt werden. Daher sollten alle Beteiligten Geduld zeigen, denn auch wenn der Weg etwas holprig ist, so hat das Unternehmen eine Fachkraft gefunden, die mit Leidenschaft und hoher Motivation arbeitet und aufgrund der Unterstützung langfristig im Unternehmen bleibt.
Sollten Sie konkrete Fragen zum Thema haben oder mehr Informationen benötigen, steht Ihnen Frau Fahle gerne zur Verfügung: fahle@arbeitundleben.org